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Foto: Offenblende / Robert Bergemann

Antisemitismus

Antisemitismus ist ein Sammelbegriff. Er bezeichnet unterschiedlich motivierte antijüdische Einstellungen und Handlungen. Diese können individuell und kollektiv sein. Außerdem tritt der Antisemitismus in vielfältigen Erscheinungsformen auf. Und er ist in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus verbreitet – zum Beispiel unter Neonazis, unter manchen islamistischen Gruppen, bei zu Verschwörungstheorien neigenden Globalisierungskritiker*innen und in der Mitte der Gesellschaft.

Für Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage ist die Bekämpfung der verschiedenen Formen des Antisemitismus seit langem ein wichtiges Thema. Dazu vermitteln die Landes- und Regionalkoordinator*innen Workshops zu Islamismus oder Rechtsextremismus oder Seminare unserer Kooperationspartner wie dem Jüdischen Museum und der Bildungsstätte Anne Frank. Auch in den Beiträgen der jährlich erscheinenden Schüler*innenzeitung q.rage und der Q-rage! online setzen sich Schüler*innen immer wieder mit Antisemitismus auseinander. Mehr zum Thema findet ihr auch in den Bausteinen „Antisemitismus und Migration“, „Antisemitismus von Links“, im Themenheft „neuer deutscher extremismus*“ und im Handbuch „Islam & Schule“.

Woher stammt der Antisemitismus?

Der Antisemitismus entstand im 19. Jahrhundert mit der Bildung europäischer Nationalstaaten. Aber er basiert auf einer jahrhundertelten Tradition: der des christlichen Antijudaismus. Die Rassenideologie gibt dem Antisemitismus im 19. Jahrhundert eine politische Prägung. Antisemitismus ist mehr als der bloße „Hass“ auf Juden. Er lässt sich auch nicht einfach mit anderen Formen der Diskriminierung gleichsetzen.

Christlicher Antijudaismus

Jesus, nach christlicher Lehre der Sohn Gottes, war Jude. Aber schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirchengeschichte wurden Jüdinnen*Juden sozial ausgegrenzt, angefeindet und bekämpft. „Kirchenväter“ wie Augustinus formulierten in zahlreichen Schriften die theologischen Argumente, welche die Jüdinnen*Juden später zum Prügelknaben des christlichen Abendlandes machten. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Behauptung, die christliche Kirche habe Israel beerbt. Diese sogenannte „Lehre von der Substitution“ (Ersetzung) meint: Die Jüdinnen*Juden seien nicht mehr das auserwählte Volk Gottes, weil sie Jesus nicht akzeptiert hätten.

Die junge christliche Kirche definierte sich selbst, in dem sie sich negativ von ihrer Wurzel – dem Judentum – abgrenzte. Diese Sichtweise war auch im letzten Jahrhundert noch maßgebend für Christ*innen. So sagte Papst Pius XII. im Jahr 1936: „Jerusalem und sein Volk sind nicht mehr die Stadt und das Volk Gottes, Rom ist das neue Zion.“

Der Vorwurf des Gottesmordes

Parallel zu diesen Lehrsätzen stand der Vorwurf des Gottesmordes: Seit der Spätantike bezieht sich die christliche antijüdische Hetze auf mehrere Bibelstellen des Neuen Testamentes, insbesondere die „Selbstverfluchung“ in Matthäus 27,25 („Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“). Der sogenannte „Blutruf“ – in dem die Juden sich selbst verfluchen – war zum Beispiel 400 Jahre Bestandteil der Oberammergauer Festspiele in Bayern und wurde erst 1984 nach einer Intervention des Münchener Bischofs gestrichen.

Antijudaismus im Mittelalter

Im gesamten Mittelalter wurden Jüdinnen*Juden sozial diskriminiert, meistens unter Berufung auf christliche Theologen. Beispielsweise bestätigte das Laterankonzil 1215 die sogenannte „Sündenknechtschaft“ der Jüdinnen*Juden. Damit stellte sie diesen den Ketzern gleich. Das Konzil erließ außerdem bestimmte Kleidervorschriften für Jüdinnen*Juden, von denen die Nationalsozialisten eine – der „Gelbe Stern“ – von den wieder aufgegriffen.

Zahlreiche Volkslieder, Kompositionen, Kunst und Kirchenbauten in Europa dokumentieren die antijüdischen Mythen. Zum Beispiel, die Jüdinnen*Juden würden christliche Kinder töten, um deren Blut für das Backen der ungesäuerten Brote zu verwenden.

Der Mythos der Brunnenvergiftung

Aufgrund der hygienischen Vorschriften des Judentums waren Jüdinnen*Juden weniger anfällig für Seuchen. Vor allem nach dem Ausbruch der Pest wurde ihnen deshalb vorgeworfen, Brunnen vergiftet zu haben, um den Christ*innen zu schaden. Die Kreuzzüge führten dann zu den ersten überregionalen Vernichtungsaktionen gegen jüdische Gemeinden in Europa. So fielen im Jahr 1096 1.100 Jüdinnen*Juden den religiös aufgewiegelten Kreuzzugsmassen in Mainz zum Opfer. Ähnlich erging es den jüdischen Gemeinden in Speyer, Worms, Köln, Xanten, Dortmund, Trier, Metz, Regensburg, Wien und Prag. Jüdinnen*Juden wurden zeitgenössischen Quellen zufolge enthauptet, erstochen, erwürgt, erschlagen, ertränkt und häufig verbrannt oder lebendig begraben. Insgesamt wird die Zahl der ermordeten Jüdinnen*Juden allein für das Jahr 1096 auf etwa 12.000 geschätzt.

Reformation

Die Reformation änderte am negativen Zerrbild der Jüdinnen*Juden nichts. Beispielsweise heißt es in Martin Luthers Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543: „Sie müssen aus unserem Lande vertrieben werden … Es stimmt aber alles mit dem Urteil Christi, daß sie giftige, bittere, rachgierige, hämische Schlangen, Meuchelmörder und Teufelskinder sind, die heimlich stechen und Schaden tun“. Heute würden seine Schriften über Jüdinnen*Juden wohl als volksverhetzend verboten.

Darstellung als „Anti-Volk“

Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen waren Jüdinnen*Juden lange Zeit ein Gegenbild. Diese Haltung hat die deutsch-jüdische Geschichte über Jahrhunderte bestimmt – bis heute. Die politische und soziale Emanzipation der Jüdinnen*Juden im 19. Jahrhundert war deshalb kein Ausdruck des Willens der Bevölkerung, sondern wurde von der Obrigkeit verordnet. Erst die napoleonischen Gesetze stellten Jüdinnen*Juden auch in Deutschland den anderen Bürger*innenn gleich. Die deutsche Nation definierte sich aber in den so genannten „Befreiungskriegen“ (1813-1815) immer als homogene Volksgemeinschaft, in romantisierter Rückbesinnung auf das „Germanentum“ und das christliche Mittelalter. Die antisemitische Stereotypie der Jüdinnen*Juden als „Anti-Volk“ war Teil dieser nationalen Selbstfindung.

Rassistischer Antisemitismus

Der biologistisch begründete Antisemitismus, der behauptet, Jüdinnen*Juden seien eine „Rasse“, entstand im 19. Jahrhundert. Er basiert auf der jahrhundertealten antijüdischen christlichen Alltagskultur und ihren einschlägigen Stereotypien. Dazu kam eine pseudowissenschaftliche Theorie, die soziale Hierarchien biologisch oder kulturell erklärte. Einen verstärkt aggressiven Charatkter erhält der biologistische Antisemitismus durch die besondere „völkische“ Form der deutschen Konstitution der Nation. Denn das antisemitische Klischee der „Kulturlosigkeit“ alias „Verjudung“ alias „internationales Judentum“ ermöglicht den Antisemit*innen eine pseudo-antikapitalistische Attitüde.

Antisemitische Klischees

Der Rassismus projiziert auf andere „Rassen“ eine idealisierte „Natürlichkeit“. Das beinhaltet häufig Vorstellungen von triebhafter Sexualität, Faul- und Trägheit, niedriger Intelligenz und Kriminalität. Antisemitische Klischees von Jüdinnen*Juden dagegen sind meist das Gegenteil: Sie schreiben den Jüdinnen*Juden eine hohe, aber verschlagene Intelligenz, sagenhafte Macht und kalte Berechnung zu. Mit solchen Klischees erklärt der moderne Antisemitismus die gesamte kapitalistische Gegenwart aus einem Prinzip: Und zwar, indem er „die Juden“ für ihre Krisen und Katastrophen verantwortlich macht.

Und heute?

Nach dem Holocaust und der Niederringung des Faschismus 1945 war der offene Antisemitismus in Deutschland gesellschaftlich geächtet. Trotzdem ist er in der christlich geprägten Alltagskultur allerdings nicht verschwunden. Zahllose Redewendungen wiederholen mehr oder weniger bewusst uralte Klischees: So ist die Idee, das Judentum sei eine Religion starrer Gesetze und predige Rache, Unfug. Im öffentlichen Diskurs ist sie trotzdem präsent – vor allem in der sprichwörtlichen Redewendung des alttestamentarischen „Auge um Auge“ (das Prinzip des Schadensersatzes soll die Blutrache verdrängen) oder der ebenso sprichwörtlichen Figur des „hochmütigen“ Pharisäers, der für „den Juden“ steht.

Doch die zentrale Aussage aller antisemitischen Ideen ist immer, die Jüdinnen*Juden seien selbst schuld daran, dass sie diskriminiert und verfolgt würden. Diese These ist so alt wie der Antisemitismus selbst.

Sekundärer Antisemitismus

Im „sekundären Antisemitismus“, der nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in Deutschland entstand, hat die Schuldabwehr eine große Bedeutung. Er bedient sich einer Verharmlosung und Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen bis hin zur Täter-Opfer-Umkehr. Zum Beispiel in der Behauptung, „die Juden“ und Israel würden den Holocaust instrumentalisieren. Sie wollten damit systematisch Schuldgefühle auslösen und Vorteile erlangen.