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Gibt es eine „Schule ohne Rassismus“?

15. Juni 2020
Sanem Kleff
Sanem Kleff (c) Foto: Wolfgang Borrs

Die Ermordung des Afro-Amerikaners George Floyd durch Polizeibeamte in Minneapolis hat Menschen nicht nur in den USA, sondern weltweit aufgeschreckt. Millionen demonstrieren nun gegen Rassismus, fordern eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, strukturelle Veränderungen in Behörden und die Ächtung diskriminierender Praktiken. Auch in Deutschland.

Die Bilder des brutalen Mordes sind nur schwer auszuhalten. Besonders für Menschen, die selbst von Rassismus betroffenen sind. Sie berühren, bringen das Thema Rassismus in die Medien und lenken die Aufmerksamkeit auf unzählige  Diskriminierungserfahrungen aus dem Alltag in Deutschland.

Aktuell berichten Schüler*innen auf twitter über ihre rassistischen Diskriminierungserfahrungen an Schulen. Die bedrückenden Beispiele kommen auch aus Schulen, die unserem Netzwerk angehören. Unter dem Hashtag #schuleohnerassismusschulemitcourage ist eine Plattform entstanden, um öffentlich über Rassismuserfahrungen an Schulen zu berichten.

Alltagsrassismus kommt in vielen Lebensbereichen vor. Aber gerade an Schulen hat er fatale Konsequenzen für die jungen Betroffenen. Im Schulalltag erleben wir nicht nur rassistische Haltungen einzelner, sondern auch die Auswirkungen von strukturellem und institutionellem Rassismus, der trotz aller Fortschritte auch in Deutschland noch nicht überwunden ist.

Der Begriff „Rassismus“ durchlief in den 25 Jahren, die Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage nun besteht, eine enorme Wandlung. Noch in den 1990erJahren wurde der Begriff von Ministerien aus Textvorlagen gestrichen, später durch „Fremdenfeindlichkeit“ ersetzt. Bildungskonzepte durften sich allenfalls interkulturell nennen, keinesfalls antirassistisch. Das Jahr 2000 stellte einen Wendepunkt im Selbstbild von Deutschland dar. Mit der Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts wurde dem Abstammungsprinzip das Geburtsprinzip hinzugefügt. Nun war auch Deutsche*r, wer hier geboren wurde und sich dafür entschied. Erstmals wurden Bundesprogramme zur Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus aufgelegt. Eine der ersten Antragstellerinnen war Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Als unser Antrag bewilligt wurde, freute ich mich nicht nur darüber, endlich ein Büro, Mitarbeiter*innen und Seminare finanzieren zu können: Erstmals war der Begriff „Rassismus“ nicht gestrichen worden!

Immer wieder wird dem Titel Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage vorgeworfen, er erwecke den falschen Anschein, es gebe keinen Rassismus an Netzwerkschulen. Dabei zeigen nicht nur die auf twitter geschilderten Diskriminierungserfahrungen: Auch in den Netzwerkschulen gibt es Rassismus und andere Formen von Menschenfeindlichkeit wie Antisemitismus, Romafeindlichkeit oder Homophobie.

Problematisiert wird das Wort „ohne“ in der ersten Zeile des Titels: „Schule ohne Rassismus“. Diese kann, aus dem Kontext gerissen, gelesen werden als: „An dieser Schule gibt es keinen Rassismus“. Als sei der Titel eine Auszeichnung, gleichbedeutend mit einem Gütesiegel oder TÜV-Stempel: „Rassismusfrei“.

Diese Annahme verwundert, da es doch mehr als realitätsfremd wäre, anzunehmen, es könne eine Schule frei von Diskriminierungen geben. Mit oder ohne Schild an der Fassade. Diese Diskussion begleitet uns seit Beginn unserer Projektarbeit. An vielen der 3.400 Netzwerkschulen wurde sie leidenschaftlich und mit unterschiedlichen Ergebnissen geführt.

Es gibt gewichtige Argumente dafür, dass genau diese Formulierung, die eine ideale Vision und keinen Istzustand beschreibt, zum Erarbeiten einer rassismuskritischen Schulkultur legitim und hilfreich ist: Schulen, die sich dem Netzwerk anschließen, wollen sich gegen Rassismus engagieren und sollten es anstreben, eine Schule ohne Rassismus zu werden – auch wenn dieses Ziel in weiter Zukunft liegt. Und auch wenn die Schritte dahin vom gesamtgesellschaftlichen Selbstverständnis bestimmt werden. Auf dem Weg dahin braucht es einen Leitsatz.

Der kritische Blick, die kontroverse Diskussion der Schüler*innen und Lehrer*innen miteinander, ihr gemeinsames Engagement werden den Anstoß zu Veränderungen an den diskriminierenden Verhältnissen geben und möglich machen. Der Titel kann dabei helfen und als Katalysator einer Diskussion innerhalb der Schulgemeinschaft dienen. Unsere 110 Landes- und Regionalkoordinationen begleiten, beraten und unterstützen die Schüler*innen und Pädagog*innen bei ihrem Engagement.

Auch wenn manche den Titel als Gütesiegel missverstehen oder als Feigenblatt missbrauchen wollen, spricht vieles dafür, ihn beizubehalten und das dort formulierte Bild einer rassismusfreien Schulkultur, in der die Gleichwertigkeit aller Menschen geachtet wird, anzustreben – die Messlatte sollten wir nicht niedriger hängen.

Sanem Kleff ist Direktorin der Bundeskoordination von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage.