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Umbenennungsfest in Berlin am 23. August 2015

Kolonialismus

Kolonialismus ist keine Ideologie der Ungleichwertigkeit. Doch alle Kolonisatoren erklärten sich selbst als überlegen und die Menschen vor Ort als minderwertig.

Über Jahrhunderte legitimierten Kolonialisatoren ihre Herrschaft, indem sie Zuschreibungen und Gegensätze konstruierten: zwischen Christen und Nichtchristen, Zivilisierten und Unzivilisierten, Menschen mit verschiedenen Hautfarben. So rechtfertigten sie nicht nur ihre Macht über Regionen, die längst bewohnt waren, sondern auch brutale Gewaltausübung: In Kolonien wurde versklavt, verschleppt, zur Arbeit geprügelt; Menschen wurden ermordet, starben an Hunger, Erschöpfung oder eingeschleppten Krankheiten. „Um in den Spiegel schauen zu können, hat man sich den Anderen sozusagen fremd gemacht“, so erklärte es der Historiker Joachim Zeller bei der Präsentation des Themenheftes „Kolonialismus“ von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage im Sommer 2022. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani bringt den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Rassismus in seinem Buch „Wozu Rassismus?“ so auf den Punkt: „Die Krone schaffte die Rahmenbedingungen, die Eroberer schafften Fakten, die Wissenschaft schaffte die Ideenlehre.“

Koloniale Verantwortung

In Deutschland gerät das Erbe des Kolonialismus erst seit einigen Jahren stärker in den Blick. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Als sich das Deutsche Reich nach seiner Gründung 1871 zur Kolonialmacht aufschwang, hatten die Seefahrernationen von Portugal bis England den größten Teil der Welt längst vereinnahmt. So machte man es sich leicht mit der Erzählung, Deutschland habe nur ganz kurz, und nicht so viele, Kolonien besessen. Außerdem bestimmte mit dem Holocaust ein Menschheitsverbrechen von unvorstellbarem Ausmaß die Aufarbeitung und die politische Bildung in Deutschland – was ebenfalls einst hart erkämpft werden musste.

Andere Verbrechen, inklusive eines Völkermords, blieben über Jahrzehnte unberücksichtigt: „Vernichtung“ befahl der deutsche Generalleutnant Lothar von Trotha, als sich die Herero und Nama in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia, 1904/1905 gegen die deutschen Kolonialherren auflehnten. Erst 2015 nahm eine deutsch-namibische Kommission – weitgehend ohne Beteiligung der betroffenen Volksgruppen – die Arbeit zu Aufarbeitung des Genozids auf. Sechs Jahre später, 2021, bezeichnete die deutsche Regierung die Ereignisse erstmals als Völkermord, mit dem Zusatz „in heutiger Perspektive“. Als Geste der Anerkennung wurde ein Programm zum Wiederaufbau und zur Entwicklung Namibias in Höhe von rund einer Milliarde Euro vereinbart. Joachim Zeller, der seine Kindheit in Namibia verbrachte, schreibt dazu im Themenheft Kolonialismus, das Ergebnis entspreche „eher den Interessen der deutschen Regierung“; der Begriff Reparationen sei vermieden worden, auch die namibische Regierung kritisiere den niedrigen Betrag.

Geschichte des deutschen Kolonialismus

Die kolonialen Verbrechen der Deutschen reichen weit zurück: Bereits 1528 besetzte die Kaufmannsfamilie Welser mit Erlaubnis der Spanier Teile des heutigen Venezuela. Sie gründete „Neu-Nürnberg“, als Maracaibo heute die zweitgrößte Stadt des Landes, und „Neu-Augsburg“, in Anlehnung an die Stadt, aus der sie stammte. Über 30 Jahre beuteten die Großkaufleute mithilfe versklavter Menschen das Land aus und bereicherten sich an Bodenschätzen. Rund 150 Jahre später beteiligten sich die brandenburgischen Kurpreußen an der Sklaverei. Unter Friedrich Wilhelm II. gründeten sie „Groß-Friedrichsburg“ im heutigen Ghana, von wo mehrere zehntausend Menschen auf brandenburgischen Schiffen verschleppt wurden. Und: Über viele Jahrhunderte zog es Deutsche als Siedler vor allem in die „Neue Welt“, als Wissenschaftler oder Missionare überallhin. Denn auch wenn ein europazentrierter kapitalistischer Weltmarkt im Zentrum des Kolonialismus stand, spielte die christliche Mission eine große Rolle. Einige Rassismusforscher, wie zum Beispiel Mark Terkessidis, nehmen neben den klassischen Kolonien in Übersee auch die Landnahme in Osteuropa in Blick, wenn über Kolonialismus gesprochen wird; Polen war 150 Jahre lang von Preußen und später vom Deutschen Reich besetzt.

Den kolonialen Startschuss im Deutschen Reich gab Otto von Bismarck 1884. Als erstes stellte er „Deutsch-Südwestafrika“ unter seinen „Schutz“, das im Kern aus „Erwerbungen“ des Bremer Tabakhändlers Adolf Lüderitz bestand. Bald folgten Togo und Kamerun weiter im Norden und Westen Afrikas; später Deutsch-Ostafrika (in etwa das heutige Tansania, Ruanda, Burundi), Deutsch-Neuguinea/Deutsch-Samoa im Südpazifik, Kiautschou in China.

Vor allem den Menschen in Afrika hat sich Deutschland, namentlich Berlin, noch aus einem anderen Grund als Symbol für Fremdherrschaft und willkürliche Grenzziehungen eingebrannt: Vertreter von zwölf europäischen Staaten, der USA und des Osmanischen Reichs kamen 1884/1885 in Berlin zur Kongo-Konferenz zusammen. Zur Verhandlungsmasse stand die weitere Aufteilung Afrikas für Handel und Mission. Kurze Zeit später machte Berlin von sich reden, als bei der Ersten Kolonialausstellung im Treptower Park über Monate auf 60.000 Quadratmetern Menschen aus den Kolonien „ausgestellt“ wurden. Das Ende der deutschen Kolonien kam nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag. Er zwang die Deutschen zur Abtretung an den neu gegründeten Völkerbund. Anstatt die Kolonien in die Unabhängigkeit zu „entlassen“, wurden sie erst einmal zu Mandatsgebieten.

Weltweit leitete erst der Zweite Weltkrieg einen Prozess der Dekolonialisierung ein – abgesehen von Mittel- und Südamerika, wo die Unabhängigkeit früher erkämpft wurde. Auch Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Portugal, die USA und Japan verloren nun ihre Kolonien, sodass aus rund 50 UNO-Mitgliedstaaten 1945 bis 1975 mehr als 140 wurden. Viele Länder zahlten für die Unabhängigkeit einen hohen Preis: In Indonesien zum Beispiel kämpften die Menschen ab 1945 vier Jahre gegen die niederländischen Kolonialherren. Erst 1960 begann die Dekolonialisierung Afrikas; ein Prozess, der mit der Wahl Nelson Mandelas zum südafrikanischen Präsidenten 1994 ein Ende nahm. Doch ist der Kolonialismus damit beendet? Nein! Von den Britischen Jungferninseln und Bermuda bis zur von Marokko besetzten Westsahara leben weiterhin Menschen unter Fremdherrschaft – eine Beschreibung, die im Übrigen viele Indigene von Alaska bis Australien auch noch heute so verwenden.

Sichtbare und unsichtbare Spuren des Kolonialismus

Allerorten haben Ausbeutung und Fremdherrschaft tiefe Spuren hinterlassen. Nicht nur in Afrika sind ethnische und Grenzkonflikte eine direkte oder indirekte Folge des Kolonialismus. Das Machtgefüge zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden ist bis heute von Strukturen sowie Abhängigkeiten bestimmt, die ohne 500 Jahre Kolonialismus undenkbar wären. Und die ehemaligen Kolonialmächte, auch Deutschland, sind Staaten und Gesellschaften voller – teils sichtbarer, teils unsichtbarer – in der Kolonialzeit geschaffener Machtverhältnisse. Sichtbar sind sie in zigtausenden Kunstwerken, die nur sehr langsam zurückgegeben werden; in Straßennamen, die an Kolonialisten statt an Kolonialisierte erinnern; in Denkmälern und Gebäuden. Zu den weit schwieriger zu greifenden unsichtbaren Spuren zählen Fragen von Teilhabe und Mitsprache, Sprachen- und Kulturpolitik – und ein weites Feld rassistischer Vorurteile.

„Natürlich haben wir es nicht mehr mit dem Rassismus der Kolonialzeit zu tun“, erklärt Saraya Gomis, „doch Traditionslinien wurden fortgeschrieben“. Es gäbe „Kontinuitäten, wie über jene gesprochen wird, die einst koloniale Objekte waren, dazu, wie wir heute über Migration und Integration sprechen“. Die Vorständin des Bildungsvereins Each One Teach One (EOTO), inzwischen auch Antidiskriminierungsbeauftragte des Berliner Senats, verweist in dem Themenheft auf die große Aufgabe der Schulen. Die zu bearbeitenden Themen reichen von Schulbüchern, „in denen Afrika als geschichtsloser Kontinent dargestellt wird“, bis zu einem „rassistischen, defizitären Blick auf bestimmte Eltern oder Schüler“. Ein anschauliches Beispiel kolonialer Fortschreibungen stammt aus dem Geschichtsunterricht: Alle Schüler*innen in Deutschland lernen etwas über die Französische Revolution. Doch kaum eine Klasse erfährt, dass nur kurz nach der Französischen – und mit dieser zusammenhängend – in Haiti eine Revolution stattfand. Erstmals in der Weltgeschichte gründeten ehemalige Sklaven einen eigenen Staat.

Postkoloniale Initiativen und Aktive

Dass so manches davon endlich in den Fokus rückt, haben postkoloniale Initiativen lange fast im Alleingang erkämpft. Erst 2018 erhob die damals regierende CDU/CSU-SPD-Koalition die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte zum „demokratischen Grundkonsens“. Inzwischen haben sich auch einige Bundesländer auf den Weg gemacht. Das Berliner Projekt „Dekoloniale – Erinnerungskultur in der Stadt“ ist dafür eins der größeren Beispiele: Bis 2024 machen postkoloniale Initiativen und Kultureinrichtungen gemeinsam Spuren und Einschreibungen des Kolonialen im städtischen Raum sichtbar. Bereits eröffnet wurde 2021 eine Dauerausstellung zu Kolonialismus, Rassismus und Schwarzem Widerstand im Museum Treptow – an dem Ort, wo die erste Deutsche Kolonialausstellung stattfand.

Zu manchen guten Beispielen gibt es allerdings auch immer wieder schlechte: Wenn, wie in Hamburg, Initiativen und Nachfahren seit Jahren darum kämpfen, dass der Tierpark Hagenbeck seine Mitverantwortung für Menschenausstellungen anerkennt. Oder wenn Jahrzehnte für eine Umbenennung der M*-Straße in Berlin gestritten wird, dann aber doch nicht stattfindet: Am 1. Oktober 2021 sollte sie in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umbenannt werden. Dazu kam es bis heute nicht, weil es Menschen gibt, die an solch rassistischen und hochproblematischen Begriffen und Namen festhalten und Umbenennungen versuchen zu verhindern.

Es bleibt also viel zu tun. Es geht, so schreibt es die Initiative Decolonize München, um „Befreiung und Verlernen“ all der „bewusst und unbewusst eingelernten kolonialen und rassistischen Weltbilder, Denkweisen, Praxen und Privilegien“, die sich über die Jahrhunderte so angesammelt haben.

Jeannette Goddar ist Journalistin und hat für das Themenheft „Kolonialismus“ von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage die Redaktion übernommen.