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Demonstration mit einem Schild in der Mitte: "Für Demokratie"
© picture alliance/dpa/Patrick Pleul

Rechtsextremismus

Das Erscheinungsbild des Rechtsextremismus hat sich verändert. Glatzen und Springerstiefel sind out, die Szene gibt sich bewusst vielfältig. So werden in neuen Erscheinungsformen, aber mit alten Parolen weit mehr Menschen erreicht als zuvor. Zu den Gruppen, die es zu beachten gilt, zählen Reichsbürger*innen und Identitäre.

Unter dem Motto „Querdenken“ versammelten sich ab Frühjahr 2020 in zahlreichen Städten Deutschlands Tausende Demonstrant*innen. Sie leugneten die Gefährlichkeit des Corona-Virus und kritisierten den Staat dafür, menschliche Kontakte zu beschränken, um seine weitere Ausbreitung zu verhindern. Dabei blieb es allerdings nicht. Die „Querdenken“-Bewegung wurde zu einem Sammelbecken für Menschen und Gruppen, die zur rechten Szene gehören: organisierte Rechtsextreme; „Reichsbürger“, die sich der bestehenden Rechtsordnung verweigern und Sehnsucht nach einem autoritären Staat haben; Verschwörungsgläubige; rechte Esoteriker*innen, die an geheimes Wissen und eine verborgene Weltmacht glauben.

Der Rechtsextremismus hat sich äußerlich gewandelt; mit der Pandemie entstand eine neue Dynamik. Professionalität und ein hoher Organisationsgrad im Internet machten die Proteste populär. Es gab modernste Technik auf großen Bühnen; Protestschilder wurden zur Verfügung gestellt und Merchandising-Artikel verkauft. Auf die Massendemonstrationen folgten regionale „Spaziergänge“ im gesamten Bundesgebiet. Immer wieder gab es dabei Angriffe auf Journalist*innen, Lokalpolitiker*innen, Antifaschist*innen, Polizeikräfte; sowie Sachbeschädigungen und Brandanschläge, auf Rathäuser, Corona-Teststationen und das Robert-Koch-Institut.

Inhaltlich teilten die „Querdenken“-Redner*innen die Welt in Gut und Böse auf: Gut sind in ihrer Sicht der rechts-libertäre US-amerikanische Milliardär Donald Trump oder der russische Diktator Wladimir Putin. Als Feindbilder wurden die Bundesregierung, demokratische Parteien, Prominente wie Bill Gates und jüdische Unternehmer wie George Soros ausgemacht.

Vor allem über unzählige Social-Media-Kanäle verbreiteten sich rasant unseriöse Spekulationen und Gerüchte. Bald seien „fast alle Geimpften tot“ lautet nur eine von Hunderten apokalyptischen Prophezeiungen, die der Journalist Patrick Gensing für den ARD-Faktenfinder sammelte und auswertete. Auch sei immer wieder davon die Rede, dass „die Regierung gestürzt, die Wirtschaft zusammenbrechen und ein ,3. Weltkrieg‘ ausbrechen werde“, berichtete Gensing. Und warnt, nach der Pandemie würden sich die Verschwörungsideolog*innen neue Themen suchen, um „zu desinformieren, zu verunsichern und Menschen aufzustacheln“.

Statistiken zu Hass und Gewalt spiegeln die Lage wider: Die Zahl der rechtsextrem motivierten Straftaten erreichte 2022 mit 23.500 einen neuen Höchststand. Hinzu kamen etwa ebenso viele Übergriffe aus einem Spektrum, dem Verfassungsschutz und Polizei eine „diffuse ideologische Motivation“ zuschreiben – jeder zweite wurde laut Bundesinnenministerium im Zusammenhang mit Corona-Protesten begangen. Auch Hasskriminalität von rechts steigt – und hinterlässt gesellschaftliche Ratlosigkeit. Denn auch Menschen, die sich selbst im friedensbewegten, christlich-fundamentalistischen oder esoterischen Milieu verorten, schrecken nicht mehr vor Gewalt zurück. Es gibt Angriffe auf Migrant*innen, Morddrohungen gegen engagierte Menschen oder Lokalpolitiker*innen. Auch offene Angriffe auf Gedenkstätten und Antisemitismus hätten deutlich zugenommen, warnte im Sommer 2023 der Stiftungsdirektor von Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner in einem Interview auf tagesschau.de. Zivilgesellschaftliche Beobachtungs- und Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt beklagen zudem seit Langem eine Untererfassung durch die Polizei, da diese rechtsmotivierte Taten nicht immer als solche einordnen würde.

Auch in der Mitte der Gesellschaft lässt sich eine gefährliche Erosion demokratischer Werte beobachten. Laut der alle zwei Jahre im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung unter der Leitung des Bielefelder Sozialpsychologen Andreas Zick erstellten Mitte-Studie stieg der Anteil der Menschen in Deutschland mit manifest rechtsextremem Weltbild von 2 bis 3 Prozent in den vorigen Studien auf 8,3 Prozent. Mehr als 6 Prozent wollen die Demokratie durch eine Diktatur ersetzen. Sei rechtsextremen Positionen noch vor zehn Jahren vor allem unter vorgehaltener Hand zugestimmt worden, würden diese nun „laut und selbstbewusst“ vorgetragen, erklärte Mitautorin Beate Küpper.

Gefährlich ist zudem das Erstarken unzähliger reichsideologischer Gruppen. „Reichsbürger“ ist ein Sammelbegriff für Einzelpersonen und Organisationen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als souveräner, also selbstständiger Staat verleugnen und sich zumeist die Rückkehr des „Deutschen Reiches“ wünschen. Sie rufen eigene „Staaten“ aus, verkaufen selbst gemachte Pässe und Führerscheine – so wie das von Peter Fitzek ausgerufene „Königreich Deutschland“, das allein 5.000 Anhänger*innen haben soll. Andere lehnen unter Namen wie „Ewiger Bund“, „SHAEF“ oder „Indigenes Volk Germaniten“ bundesdeutsche Gesetze ab. Das Netzwerk um „Arminius Erben“ orientiert sich an Russland. Gewalt wird auch in diesem Milieu gerechtfertigt: 2016 starb ein Polizist im bayrischen Georgensgmünd durch Schüsse eines Mannes, der seinen „Staat Wolfgang“ mit Gewalt verteidigte. Einige von ihnen bilden Untergrundgruppen, wie etwa die „Patriotische Union“ oder „Vereinte Patrioten“, auch terroristische Pläne gegen den Staat werden gehegt.

Bei den „Querdenken“-Demonstrationen mischten „Reichsbürger“-Netzwerke von Beginn an mit. Im August 2020 hatte die Organisation „staatenlos.info“ von Rüdiger Hoffmann eine Bühne und Informationszelte vor dem Reichstag in Berlin aufgebaut. Bevor Hoffmann „staatenlos.info“ gründete, war er Kreisvorsitzender der NPD in Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern. Heute verkündet er als selbst ernannter „Regimegegner“ lautstark, die Bundesrepublik Deutschland setze das „Dritte Reich“ fort. Sie betreibe eine faschistische Politik – nicht er.

Am 29. August 2020 folgen rund 38.000 Menschen einem Aufruf der „Querdenker“. Die Stimmung in Berlins Mitte ist aufgeheizt. Von mehreren Bühnen peitschen moderne Heilsbringer wie der vegane Koch Attila Hildmann die Menge auf. Bei den „Reichsbürgern“ von „staatenlos.info“ betritt eine Heilpraktikerin aus der Eifel die Bühne. Donald Trump sei in der Stadt, behauptet sie, die Menge johlt begeistert. Dann ruft sie zur Erstürmung der Parlamentstreppen auf. 400 Demonstrierende durchbrechen Polizeisperren und rennen zum Reichstagsgebäude. Sie brüllen „Widerstand“; Flaschen und Steine fliegen gegen die zu wenigen Beamten. Die rechte Szene feiert die kurzzeitige „Besetzung“ der Treppe als „Sturm auf den Reichstag“. Vize-Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilte auf bundesregierung.de die gewaltsame Aktion: „Nazisymbole, Reichsbürger- und Kaiserreichflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts verloren.“

Die „Querdenken“-Proteste lösten eine Bewegung aus, die den Anbruch einer nebulösen „Neuen Zeit“ herbeisehnt; Aufstandsszenarien auf dem Weg dorthin inklusive. Parlamentarisch begleitet wird die Entwicklung von der AfD, deren rechtsextremer Thüringer Vorsitzender Björn Höcke 2017 in Dresden eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte.

Zum bundesweiten Meme der Verharmlosung deutscher Geschichte wurde „Jana aus Kassel“, eine junge Frau, die im November 2020 auf einer „Querdenken“-Bühne in Hannover sagte: „Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich hier seit Monaten im Widerstand bin.“ Eine nicht zufällige, falsche Selbstdarstellung: Die Studentin Sophie Scholl gehörte der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ an und hatte den Mut, Flugblätter gegen das Regime von Adolf Hitler zu verteilen, als fast alle anderen schwiegen, und wurde dafür 1943 von den Nationalsozialisten hingerichtet. „Jana aus Kassel“ dagegen genießt alle Freiheiten der Demokratie, muss als Oppositionelle nicht um ihr Leben fürchten.

Antisemitismus wurde zu einem zentralen ideologischen Kitt der Proteste: „Die Inzidenz liegt bei 1933“; „Mengele spritzte auch Kinder tot“ – so und ähnlich lauteten Parolen auf Transparenten bei Protest-„Spaziergängen“. Mit dem Ziel, eine rechtsextreme Weltsicht zu normalisieren, wurden bewusst Grenzen des Sagbaren verschoben. Judenhass sei in der Corona-Pandemie in vielen Kreisen wieder gesellschaftsfähig geworden, erklärte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein laut der „Jüdischen Allgemeinen bei einer Pressekonferenz zum Thema „Radikalisierung und Normalisierung“.

Aggressive Stimmungsmache gegen Deutschland als Einwanderungsland dreht die Eskalationsspirale weiter. „Nationalistische und autoritäre Politikangebote erscheinen als plausible Alternative zu der selbst empfundenen sozialen Ausgrenzung und entsprechenden prekären Alltagserfahrungen“, warnt Fabian Virchow, Politikwissenschaftler an der Hochschule Düsseldorf in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de). Zentrales Bindeglied zwischen den heterogenen Akteuren – organisiert oder nicht – sei eine rassistisch und nationalistisch aufgeladene Interpretation des Weltgeschehens, in der Deutschland beziehungsweise „das deutsche Volk“ als Opfer vorkomme. Horrorszenarien vom drohenden „Volkstod“, wie sie vermummte Neonazis der Gruppe „Die Unsterblichen“ in Videoaufnahmen verbreiteten, sind ebenso wenig neu wie der Kampfbegriff „Umvolkung“, den man bei der „Identitären Bewegung“ wie der AfD gleichermaßen hört. Schon die 1964 gegründete NPD verbreitete ihn über Jahre – und betonte das auch in einer 2016 in Mecklenburg-Vorpommern veröffentlichten Presseerklärung mit dem Titel „Umvolkung – ein NPD-Begriff macht Karriere“. 

Meist verwenden die AfD und die ihr nahestehende Zeitschrift Compact unter Chefredakteur Jürgen Elsässer den Kampfbegriff „Großer Austausch“. Er soll suggerieren, es gäbe einen geheimen Plan, weiße christliche Menschen in westlichen Staaten durch Nichtweiße und Muslim*innen zu ersetzen. Der französische Autor Renaud Camus machte die Legende vom „Großen Austausch“ 2011 mit seinem gleichnamigen Werk Le Grand Remplacementbekannt. Nicht die Kleinstpartei NPD, doch ihre Themen, Parolen und Ideologien sind im Mainstream angekommen.

Dass das gelingt, ist nicht zuletzt der Sehnsucht nach Entschleunigung und Einfachheit zu verdanken, die Globalisierung und Digitalisierung bei vielen Menschen wecken. Das Mensch-Natur-Verhältnis dringt verstärkt ins gesellschaftliche Bewusstsein vor; Wissenschaftsfeindlichkeit ersetzt immer öfter Wissenschaftskritik. All das bietet Rechtsextremen Anschlussmöglichkeiten, die ihre Vordenker schnell erkannt haben. Eine wichtige Figur dabei ist Martin Sellner, Kopf der nationalistischen „Identitären Bewegung“, der auf einen Zusammenschluss des rechten Lagers setzt. Schon nach wenigen Jahren „Kampagnenarbeit“ könne sich die Stimmung in der Bevölkerung zu dessen Gunsten verschieben, propagiert Sellner in seinem Buch „Regime Change von rechts“ und macht sich für eine rechte „Revolutionstheorie“ stark. Statt auf eine militante Revolte setzt der Wiener auf eine „wehrhafte Bewegung“ aus dem Mittelstand. Das Ziel: eine Gesellschaft mit „ethnokultureller Identität“ und Homogenität. Wie eng vernetzt Sellner (nicht nur) mit der deutschen AfD ist, zeigte sich Anfang 2024: Das Recherchezentrum Correctiv deckte auf, dass er einen von ihm entwickelten „Masterplan Remigration“ im November 2023 in einem Potsdamer Hotel vorstellte. Mit dabei: Mitglieder der AfD sowie der Werteunion, in der sich vor allem konservative CDU/CSU-ler*innen organisieren.

All das bedeutet: Die Bedrohung von rechts stellt eine alltägliche Gefahr dar. Auf dem Weg zur Macht werden Parlamente erobert; im vorpolitischen Raum wie in Schulen, Vereinen und an Arbeitsplätzen kämpfen Rechtextreme um die Meinungshoheit. Sie gehen professionell und strategisch vor. Dagegen muss sich eine Demokratie, müssen sich Demokrat*innen wehren! Es braucht breite und beherzte Aufklärung über die neue rechtsextreme Szene und ihre Vorgehensweisen; politische Bildung und Beteiligung von klein auf; Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen durch Demokratieförderprogramme. Außerdem vonnöten: Verantwortungsträger*innen auf allen Ebenen, die Haltung zeigen; politische Parteien, die Antworten auf Krisen finden und trotzdem wertegeleitet handeln; einen Staat, der sich mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen Feind*innen der Demokratie wehrt. Denn überall dort, wo sich eine soziale, vielfältige und weltoffene Gemeinschaft zurückzieht, können sich Rechtsextreme ausbreiten. Vor allem darf nicht zugeschaut werden, wenn sich deren Netzwerke auch in Polizei, Justiz und Bundeswehr formieren –in Institutionen, die die Demokratie eigentlich schützen sollen.

Andrea Röpke

Andrea Röpke ist Journalistin und eine der führenden Rechtsextremismus-Expert*innen Deutschlands. Diesen Beitrag verfasste sie für das 2024 erschienene Themenheft Rechtsextremismus & Schule.

Mehr zum Thema findet ihr in den Themenheften neuer deutscher extremismus* und Rechtspopulismus, im Baustein Transnationaler Extremismus und in den Handbüchern für die Grund- und Sekundarstufe.