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Foto: Johanna Landscheidt

Rassismus

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland lässt keinen Zweifel: Es ist von der Würde des Menschen die Rede, nicht von der Würde des Deutschen. In Artikel 3, Absatz 3 heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse [sic! Die Redaktion], seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Der Alltag in Deutschland ist weit von diesem Anspruch entfernt. Viele Menschen erleben rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung. Entsprechen ihre Namen oder ihr Äußeres nicht den vorherrschenden Normen der Mehrheitsgesellschaft, werden sie in vielen Lebensbereichen benachteiligt: auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, in Freizeiteinrichtungen – und als Kinder und Jugendliche in der Schule.

Der Begriff Rassismus steht für eine Lehre, die an die Existenz menschlicher Rassen glaubt. Die Herkunft des Wortstamms ist unklar. Er könnte auf den lateinischen Begriff „radix“ zurückzuführen sein, der so viel wie „Wurzel“ im Sinne von Herkunft bedeutet. Oder auf „generatio“ im Sinne des „Wesens eines Dinges“ bzw. „ratio“, die „Art und Weise“. Manche führen ihn auf den aus dem Arabischen stammenden Begriff „raza“, also „Kopf“ oder „Ursprung“, zurück.

Rassismus als Ordnungsprinzip

„Rasse“ ist eine Kategorie, ein Ordnungsprinzip, das sich ähnelnde Elemente zusammenfasst und ein überschaubares Gesamtbild aus einer im Grunde unüberschaubaren Menge erstellt. Historisch wurde der Begriff „Rasse“ in den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, genutzt und diente der Kategorisierung von Tieren. Nutz- und Haustiere wie Pferde, Rinder, Hunde und Katzen wurden und werden gezüchtet, um bestimmte Eigenschaften bezüglich Ausdauer, Zugkraft, Größe, Schnelligkeit, Fleischqualität oder Aussehen zu erzielen. Daher gibt es Hunde- und Pferderassen, nicht aber Schlangen- oder Pinguinrassen.

Die Übertragung dieser Ordnungsvorstellungen auf den Menschen erfolgte bereits vor mehr als 2.000 Jahren. In Platons berühmter Schrift „Politeia“ findet sich die Idee, durch staatliche Geburtenkontrolle einen überlegenen Menschentyp zu formen. Im Jahr 1449 fand der Begriff „Rasse“ mit den „Estatutos limpieza de sangre“ – den „Statuten von der Reinheit des Blutes“ – erstmals Eingang in die Rechtsprechung. Der Erzbischof von Toledo führte sie ein, um Christ*innen von den „Rassen der Juden, Mauren oder Häretikern“ abzugrenzen. Ihre Differenz wurde somit durch einen unterschiedlichen Glauben, nicht durch körperliche Merkmale begründet.

Im Zeitalter der Aufklärung wuchs in Europa im 18. Jahrhundert der Wunsch, immer mehr Phänomene rational zu erklären. So stieg auch das Bedürfnis, die Menschheit in eine eindeutige Ordnung einzufügen. Der französische Philosoph Voltaire schrieb 1755: „Die Rasse der N* [von der Redaktion geändert] ist eine der unsrigen völlig verschiedene Menschenart, wie die der Spaniels sich von der der Windhunde unterscheidet. […] Man kann sagen, dass ihre Intelligenz nicht einfach anders geartet ist als die unsrige, sie ist ihr weit unterlegen.“ In die deutsche Sprache führte Immanuel Kant den Begriff 1775 unter dem Titel „Von den verschiedenen Rassen der Menschen“ ein.

Die Annahme, es gäbe unter Menschen verschiedene Rassen wie in der Tierwelt, hat eine lange Tradition. Dabei widerspricht sie allen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Vielfalt und Individualität

Alle Menschen gehören derselben Gruppe von Säugetieren an, der des Homo Sapiens. Die Genforschung weist eine genetische Übereinstimmung von mehr als 99,9 Prozent nach. Auch können Genomunterschiede unter Mitgliedern sich äußerlich ähnelnder Gruppen – etwa Menschen aus Unter- und Oberfranken – größer sein als zum Beispiel zwischen solchen aus Unterfranken und Japan. Und: Alle über acht Milliarden Weltbürger*innen sind individuell einzigartig, sie sehen weder gleich aus noch haben sie die gleichen Eigenschaften.

Durch Kolonialisierung, Migration, wachsende Mobilität und Globalisierung sind sich Menschen in allen Regionen der Welt ähnlicher als je zuvor. Es sind die konkreten Lebensbedingungen, die individuelle Unterschiede befördern. Nichts erlaubt uns zu sagen, dass manche Gruppen per se intelligentere, musikalischere oder mathematisch begabtere Individuen hervorbringen als andere.

Es geht um Macht

Wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz ist Rassismus weit verbreitet. Denn die Anhänger rassistischer Ideen profitieren von der Vorstellung, es gäbe höher- und minderwertigere Menschenrassen. Aus rassistischen Ideologien werden Herrschaftsverhältnisse der Über- und Unterordnung abgeleitet und so die Unterdrückung und Ausbeutung von Gruppen gerechtfertigt. Bei Rassismus geht es immer um Machtverhältnisse und darum, sich auf Kosten anderer zu bereichern.

Der französisch-tunesische Soziologe Albert Memmi formuliert es so: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der eine Aggression gerechtfertigt werden soll.“

Die Vorstellung von höher- und minderwertigen Rassen hat viel Leid über Menschen gebracht. Sie rechtfertigte den Sklavenhandel, den Kolonialismus, Ausbeutung und Völkermorde. Auch heute wird noch behauptet, für schlechte und schwierige Situationen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft seien „die Anderen“ verantwortlich – zum Beispiel Türk*innen, Sint*izze und Rom*nja, Muslim*innen, Jüdinnen und Juden oder Schwarze Menschen.

Rassismusformen

In Deutschland erleben viele verschiedene Gruppen Rassismus. Die Mechanismen der verschiedenen Rassismen sind immer ähnlich: Es gibt eine Ideologie und Vorurteile, Rassismus in Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen sowie eine historische Dimension. Jedoch zeigen sich die Diskriminierung und ihre Geschichte gegenüber Sinti*zze und Rom*nja anders als die gegenüber Schwarzen Menschen. Eingewanderte und ihre Angehörigen aus beispielsweise Vietnam oder der Türkei sind wieder anderen rassistischen Ausgrenzungen und Herabwürdigungen ausgesetzt.

Antiziganismus bezeichnet den Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja und alle anderen Menschen, die mit dem Z-Wort bezeichnet und diskriminiert werden oder die während des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Sinti*zze und Rom*nja leben seit dem Mittelalter in Europa. Sie wurden als Rechtlose verfolgt, 1899 wurde ihre Vertreibung zum politischen Ziel erklärt, 1929 eine Polizeistelle eingerichtet, die die Aktionen gegen Sinti*zze und Rom*nja koordinierte. Dem Nationalsozialismus fielen 500.000 Sinti*zze und Rom*nja zum Opfer. Bis heute sind in weiten Teilen der Bevölkerung Vorurteile gegen sie verbreitet, die auch die Arbeit von (staatlichen) Institutionen, wie Ämter, Polizei und Medien prägen.

Zum Themenfeldtext Antiziganismus

Der Anti-Schwarze Rassismus ist eng mit dem Kolonialismus verknüpft. Was lange Zeit nicht aufgearbeitet wurde und im Schulunterricht oft noch nicht behandelt wird: Deutschland war Kolonialmacht und hat ein koloniales Erbe. Über Jahrhunderte legitimierten Kolonialisator*innen ihre Herrschaft, indem sie Zuschreibungen und Gegensätze konstruierten: zwischen weißen und Schwarzen Menschen, zwischen Christen und Nichtchristen. In den Kolonien wurden Menschen versklavt, verschleppt, zur Arbeit geprügelt und ermordet. Und die in der Kolonialzeit geschaffenen Machtverhältnisse wirken bis heute. Sie zeigen sich in zigtausenden Kunstwerken, die nur sehr langsam zurückgegeben werden; in Straßennamen und Denkmälern, die an Kolonialverbrecher erinnern und im Gebrauch rassistischer Sprache wie dem N*- und dem M*-Wort. Zu den schwieriger zu greifenden unsichtbaren Spuren zählen Fragen von Teilhabe und Mitsprache – und ein weites Feld rassistischer Vorurteile, die nicht selten in Gewalt mündet.

Zum Thementext Kolonialismus

Antitürkischer Rassismus reicht von der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft bis zu rechtsextremer Gewalt: Eine Zeit lang waren vor allem Eingewanderte aus der Türkei Ziel bürgerlich-rassistischer Diskurse, rassistischer Berichterstattung, polarisierender Parteikampagnen und einer ausgrenzenden Gesetzgebung. Von 1961 bis 1973 wurden Türk*innen als Arbeitskräfte in die Bundesrepublik angeworben. Nach dem Anwerbestopp ließen sich viele Familien auf Dauer in Deutschland nieder und wurden zur größten Minderheit im Land. Von dem Rassismus, der ihnen entgegenschlug, bis zur Mordserie des NSU und den Terroranschlägen in Hanau lässt sich eine Linie ziehen.

Der antiasiatische Rassismus zeigte sich ebenfalls im Zuge von staatlich initiierter Arbeitsmigration. Viele Eingewanderte und ihre Nachfahren aus Vietnam kamen als Vertragsarbeiter*innen in die DDR. Sie erlebten rassistische Ressentiments und wurden beispielsweise für Mangel an Wohnraum verantwortlich gemacht. Von staatlicher Seite wurde verordnet, dass die Frauen keine Kinder bekommen durften. Nach der deutschen Wiedervereinigung kam es zu zahlreichen rassistischen Gewaltakten und Anschlägen. Ziel der pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 war neben der „Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber“ ein Wohnheim für ehemalige Vertragsarbeiter*innen. Als 2020 das SARS-CoV-2-Virus vom chinesischen Wuhan aus die Corona-Pandemie auslöste, bekam der antiasiatische Rassismus einen neuen Schub – weltweit kam es zu Beschimpfungen, zu Ausgrenzung und körperlichen Angriffen auf Menschen, die als asiatisch wahrgenommen wurden.

Dies sind nur Beispiele dafür, wie unterschiedlich Rassismus gegen verschiedene Gruppen „funktioniert“. Mehr Informationen zu diesen und weiteren Rassismusformen gibt es im Themenheft Rassismus und im Themenheft Kolonialismus.